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Die Erweiterung der Lean Startup-Methode
Das Entwickeln einer Geschäftsstrategie ist eine komplexe Aufgabe, die einen Prozess des Lernens, Planens und Kontrollierens umfasst. Einer der bekanntesten Ansätze hierfür stellt die Lean Startup-Methode dar. Bekannt wurde das Instrument, da es Innovator:innen eine Prozess darbietet, ihre Erfindungen schnell zu testen, daraus zu lernen und für ihre Kund:innen anzupassen.
Mit Hilfe regelmäßiger Feedbackloops entstehen iterative Lernprozesse, durch welche die Marktfähigkeit einer Innovation so schnell und schlank wie möglich bewiesen oder widerlegt wird. Die agile Innovationsmethode setzt dabei auf Kundenfeedback statt Intuition und Flexibilität statt langfristiger Planung. Dank der Lean Startup-Methode wurde es Startups ermöglicht, schnelle Anpassungen an der ursprünglich getesteten Geschäftsidee vorzunehmen. Eine neue Form von Agilität, die herkömmliche Methoden der Produktentwicklung bislang nicht boten.
Die Kernbausteine der Lean Startup-Methode auf einen Blick
- Customer Development – Testen aller Hypothesen (Geschäftsideen) an Kund:innen
- Agile Engineering – Iterative Entwicklung eines minimal lebensfähigen Produkts (MVP: minimal viable product)
- The Business Model Canvas – schnell zu kreierendes Geschäftsmodell, das einen Überblick über die wichtigsten Kernbereiche der zu testenden Hypothesen schafft
Während die drei Lean-Tools hilfreich sind, den Produkt-/Markt-Fit innerhalb eines bestimmten Marktes zu finden (oder zu korrigieren bzw. anzupassen, wenn die Hypothesen falsch sind), helfen sie nicht herauszufinden, wo man die Suche nach dem Markt mit den besten Potentialen für die Geschäftsidee beginnen soll.
Die Erweiterung des Lean Startup-Ansatzes
Genau diese Ergänzung wurde mit dem Market Opportunity Navigator von Gruber und Tal (2017) geschaffen. Er bietet eine Weitwinkelperspektive, um verschiedene potenzielle Marktdomänen für eine Innovation zu finden, bevor herangezoomt und das Geschäftsmodell entworfen oder das minimal überlebensfähige Produkt getestet wird (siehe Abbildung). Das Framework kann somit als front-end des Customer Developments eingesetzt werden. In anderen Worten: der Navigator hilft Unternehmen, eine strategische Vorauswahl erfolgsversprechender Märkte für ihre Innovationen zu treffen, diese in Bezug auf ihre Chancen und Risiken zu analysieren sowie anschließend zu priorisieren. Daraus resultiert nicht nur eine enorme Zeitersparnis, es unterstützt auch dabei, einen Plan B oder C in der Hinterhand zu haben, falls sich herausstellen sollte, dass Plan A doch nicht realisierbar ist.
Abbildung: Shepherd, D. A. & Gruber, M. (2020). The Lean Startup Framework: Closing the Academic–Practitioner Divide. Entrepreneurship Theory and Practice, S.4. https://doi.org/10.1177/1042258719899415
Wie funktioniert der Navigator überhaupt?
In unserem Blogpost zu dem Buch „Where To Play: 3 steps for discovering your most valueable market opportunities“ von Gruber und Tal (2017) haben wir die Hauptinhalte des Market Opportunity Navigators bereits grob zusammengefasst. Nun soll es mehr in die inhaltliche Tiefe der drei Anwendungsbereiche gehen.
Hinweis: Du hast unseren Beitrag verpasst? Entdecke hier alles Wissenswerte über Buchinhalt und Autor:innen.
Im Folgenden findest du die visuelle Darstellung des Market Opportunity Navigators mit seinen drei Anwendungsbereichen (“Arbeitsblätter“): Market Opportunity Set, Attractiveness Map und Agile Focus Dartboard.
Hinweis: Alle Arbeitsblätter, die der Market Opportunity Navigator umfasst, sind kostenlos auf der offiziellen Website zu dem Buch „Where To Play: 3 steps for discovering your most valueable market opportunities“ von Gruber und Tal (2017) herunterladbar. Hinweis: Die Voraussetzung hierfür ist eine kostenlose Registrierung auf der Website. Alle weiteren Informationen findest du hier.
Arbeitsblatt #1: Market Opportunity Set
Erstellen eines Portfolios von möglichen Marktchancen, auf Basis von bestehenden Kernkompetenzen und neuen Technologien
Warum?: Am Ende des Tages sind es die Auswahlmöglichkeiten, die es einem Unternehmen ermöglichen agil zu bleiben, egal ob in den Anfängen stehend oder bereits etabliert.
Optionen sind ein echter Gewinn für eine Firma!
Herangehensweise:
- Schritt: Verstehen der Bausteine
Zunächst werden die Kernkompetenzen / Kerntechnologien charakterisiert – unabhängig von der angedachten Anwendung / dem angedachten Produkt. Die Elemente werden anhand ihrer Hauptfunktion und Eigenschaft aufgelistet und in Bereiche aufgeteilt. - Schritt: Konstruktion verschiedener Türme
In einem zweiten Schritt wird versucht, unterschiedliche Anwendungsbereiche der Kernkompetenzen / -technologien zu identifizieren – alleinstehend oder in Kombination miteinander. Im Anschluss sollte die Frage beantwortet werden, für welche Zielgruppe welche dieser Anwendungsbereiche interessant sein könnte.
Ergebnis: Am Ende der ersten Phase hat jede:r Unternehmer:in eine Auswahl unterschiedlicher Marktpotentiale für die zuvor identifizierten Anwendungsbereiche, angepasst auf die Kernkompetenzen und Kerntechnologien des jeweiligen Unternehmens.
Arbeitsblatt #2: Attractiveness Map
Bewertung der erfolgversprechendsten Marktchancen mittels einer Chancen- und Risikoanalyse
Warum?: Eine systematische Bewertung und Visualisierung der ermittelten Marktchancen vereinfacht es, deren Vor- und Nachteile besser zu erfassen, vergleichen und priorisieren zu können.
Kombiniere die 1000 Puzzleteile zu einem klaren Bild
Herangehensweise: Um herauszufinden, welche der zuvor identifizierten Marktchancen am erfolgversprechendsten sind, haben Gruber und Tal (2017) eine sogenannte attractiveness map entwickelt. Das Tool fungiert als Chancen- und Risikoanalyse. Zunächst werden die Vor- und Nachteile der unterschiedlichen Marktchancen Schritt für Schritt ermittelt. Daraufhin wird jede Option in eine Chancen- und Risiken Matrix eingetragen. Schließlich entsteht eine geclusterte Übersicht aller analysierten Marktchancen. Letztlich vereinfacht die Auflistung Unternehmer:innen ihre Optionen zu vergleichen, die einzelnen Vor- und Nachteile besser zu erfassen und priorisieren zu können. Mit Hilfe einer abschließenden Bewertung der einzelnen Marktchancen entsteht eine gescorte Übersicht aller Marktchancen. Somit ist schnell auf einen Blick zu erkennen, welche Optionen für das Unternehmen am erfolgversprechendsten sind.
Ergebnis: Mit Abschluss dieses Prozesses haben die Unternehmen ein tiefgreifendes Verständnis über die Vor- und Nachteile ihrer alternativen Marktchancen generiert. Das Resultat ist eine nach „Attraktivität“ bewertete Übersicht aller Optionen im Rahmen der Chancen- und Risiken Matrix.
Arbeitsblatt #3: Agile Focus Dartboard
Festlegung einer agilen Fokusstrategie
Warum?: Die Ausarbeitung einer agilen Fokusstrategie erlaubt es, vorausschauende Entscheidungen über Backup- und Wachstumsoptionen der bewerteten Marktchancen zu treffen, die Auswirkungen auf den Aufbau und die Gestaltung eines Unternehmens haben könnten.
Mache Agilität zum Herzstück deines Unternehmens
Herangehensweise: Gruber und Tal (2017) suggerieren, dass wenn Unternehmer:innen verstehen, dass sie sich im Entwicklungsprozess auf mehrere Marktchancen einlassen können, ihnen oft erst dann bewusst wird, dass wichtige Entscheidungen in einem frühen Stadium (z. B. die Wahl eines Markennamens, der zu mehreren Märkten passen könnte, die Einstellung von Mitarbeitenden, Aufbau der Unternehmenskultur, usw.) die Agilität des Unternehmens im späteren Verlauf verbessern können. Aus diesem Grund ist der finale Schritt des Market Opportunity Navigators, das Festlegen einer Reihenfolge für die eruierten Marktchancen, wegweisend für die Zukunft des Unternehmens.
Zunächst entscheidet sich das Unternehmen für eine sogenannte Primary Market Opportunity, die aus der attractiveness map abzuleiten ist. Im Anschluss werden die übrigen Marktchancen, die sich im Rahmen der attactiveness map herausgebildet haben, auf Produktähnlichkeit und Marktverbundenheit in Bezug auf die Primary Market Opportunity analysiert. In einem weiteren Schritt wird herausgearbeitet, ob es sich bei den jeweiligen Optionen um eine Backup- oder Wachstumsmöglichkeit handelt. Als Abschluss empfehlen die Autor:innen des Market Opportunity Navigators die Ausarbeitung einer agilen Fokusstrategie. Diese sollte neben der Primary Market Opportunity noch mindestens eine weitere Backup- sowie Wachstumsoption beinhalten. Das breite Portfolio ist ein wichtiges Fundament für die Überlebensfähigkeit eines Unternehmens in einem volatilen Umfeld.
Ergebnis: Ist der letzte Schritt des Market Opportunity Navigators vollzogen, haben die Unternehmen ein diversifiziertes Portfolio verschiedener Marktchancen kreiert. Dabei ist eine Art Anleitung entstanden, die eine Reihenfolge angibt, welche Marktchancen zuerst verfolgt werden sollten und welche für die Zukunft eingeplant werden können.
Warum ist die Erweiterung der Lean Startup Methode so bedeutend?
Durch den Einsatz des Market Opportunity Navigators finden Unternehmen nicht nur heraus, „auf welchem Markt“ sie spielen müssen, sondern auch, welchen interessanten Wachstumspfad sie zukünftig beschreiten können.
Zu Beginn geht es darum einen klaren strategischen Fokus zu setzen. In diesem Vorhaben unterstützt der Market Opportunity Navigators Unternehmen, da mit seiner erfolgreichen Anwendung konkretisiert wird, welche Optionen vorerst auf Eis gelegt werden und welche Optionen sofort verfolgt werden. Die dadurch automatisch eingenommene Weitwinkelperspektive, die alle Marktchancen aufgedeckt und vergleicht, ist eine wichtige Grundlage für strategische Entscheidungen aus unternehmerischer Sicht: Das Endergebnis des Market Opportunity Navigators kann herangezogen werden, wenn es um die Entscheidung geht, in welchen Märkten ein Unternehmen zukünftig agieren möchte. Wenn diese Entscheidung getroffen wurde und eine agile Strategie (siehe Abbildung 5) definiert wurde, finden die Lean Tools ihre Anwendung: Es kommt es darauf an zu verstehen, welche Regeln auf den jeweiligen Märkten herrschen. Dafür muss ein herangezoomter Blickwinkel eingenommen werden, wie ihn die Lean Startup Methode lehrt.
Aus den aufgezeigten Gründen ergänzen sich beide Ansätze ideal und bilden zusammen eingesetzt ein wahres „Superset“ an Werkzeugen für deine Unternehmensgründung bzw. die Einführung einer neuen Innovation.
Weitere Informationen
- Bekomme noch mehr Einblicke wie der Market Opportunity Navigator in der Praxis angewandt wird – hier ist eine Übersicht über zahlreiche Case Studies.
- Du willst mehr über das Buch und die Autor:innen erfahren? Hier findest du unseren Blogbeitrag dazu. Viel Spaß beim Lesen!
Abbildungsverzeichnis
- Titelbild: Konstantin Evdokimov (unsplash)
- Abbildung: Shepherd, D. A. & Gruber, M. (2020). The Lean Startup Framework: Closing the Academic–Practitioner Divide. Entrepreneurship Theory and Practice, S.4. https://doi.org/10.1177/1042258719899415
Literaturverzeichnis
Blank, S. & Euchner, J.(2018). The Genesis and Future of Lean Startup: An Interview with Steve Blank. Research Technology Management, 61(5), 15-21.
Blank, S. (2019). How to stop playing target market roulette: A new addition to the lean toolset. Zuletzt aufgerufen 28. April.2021, auf https://steveblank.com/2019/05/07/how-to-stop-playing-target-market-roulettea-new-addition-to-the-lean-toolset/.
Gruber & Tal (2019). Where to Play: A new addition to the Lean toolset. Zuletzt aufgerufen 03.Mai.2021, auf https://www.slideshare.net/WhereToPlay/where-to-play-a-new-addition-to-the-lean-toolset.
Gruber, M. & Tal, S. (2017). „Where to Play: 3 steps for discovering your most valueable market opportunities“ (1.Aufl.), Pearson Education Limited.
Shepherd, D. A. & Gruber, M. (2020). The Lean Startup Framework: Closing the Academic–Practitioner Divide. Entrepreneurship Theory and Practice. https://doi.org/10.1177/1042258719899415